Was neu anzufangen für ein gutes Leben bedeuten kann… Gastbeitrag von P. Timothy Radcliffe OP*
Als neue Ordensprovinz leben und arbeiten wir Predigerbrüder in Deutschland und Österreich nun seit rund einem Jahr zusammen. Über unseren neuen Anfang freuen sich neben Brüdern, Schwestern und Freundeskreisen auch zahlreiche Dominikaner, mit denen wir international zusammenarbeiten. Zum Beispiel P. Timothy Radcliffe OP aus England, der uns in gemeinsamen Projekten verbunden ist. Phasen der Aufbrüche und Neuanfänge sind ihm wohlbekannt….
Liebe Brüder, liebe Schwestern, liebe Freunde der Dominikaner in Deutschland und Österreich,
meine Gedanken und Gebete sind mit Euch in dieser neuen Phase dominikanischen Lebens, der Fusion Eurer beiden Provinzen und dem gemeinsamen Neustart.
Dabei hat „Neu“ für mich zwei Facetten:
Es kann einerseits schlicht „anders“ bedeuten, eine Veränderung per se meinen, ohne erweiternde Bedeutung.
Für uns Christen andererseits bringt Gottes Gnade neue Frische und Verjüngung. „Wenn also jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung: Das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden“ (2. Korintherbrief 5,17). In diesem Sinne von „neu“ schrieb etwa der Dichter und Romanautor D. H. Lawrence in seinem Gedicht „Shadows“ (dt.: Schatten):
„…am Morgen erwachen wie eine neu geöffnete Blume
so wurde ich wieder in Gott getaucht und neu erschaffen.“
Mein erster Lehrer war Cornelius Ernst, ein Dominikaner aus Sri Lanka, ein Schüler Wittgensteins, ein Dichter. Er nannte diese gnadenhafte Erneuerung „den genetischen Moment“: „Jeder genetische Moment ist ein Geheimnis. Er ist Morgendämmerung, Entdeckung, Frühling, Neugeburt, ans Licht kommen, Erwachen, Transzendenz, Befreiung, Ekstase, bräutliche Zustimmung, Geschenk, Vergebung, Versöhnung, Revolution, Glaube, Hoffnung, Liebe…“ Sein Punkt ist, dass wir jene „genetischen Momente“ erleben dank einer Macht, die alle Dinge verwandelt und erneuert: „Seht, ich mache alles neu“ (Offenbarung 21,5).
Auf Eurem neuen Weg miteinander wird natürlich nicht alles neu gemacht. Vieles in Euren Leben geht genauso weiter wie zuvor. Dennoch kann es immer wieder diese gnadenhafte Erneuerung geben, die nicht lediglich Veränderung an sich ist.
Angst vor Verschiedenheit überwinden
Für die meisten von uns ist unsere dominikanische Identität in den Traditionen unserer jeweiligen Provinzen verankert. Eine Fusion als Zusammengang kann daher bedrohlich für unser Selbstverständnis empfunden werden. Wir müssen diese Angst vor Verschiedenheit überwinden, die auch außerhalb unseres Ordens in unserer Gesellschaft so weit verbreitet ist. Denn jede Verschiedenheit ist fruchtbar. Jeder von uns verdankt seine Existenz der Verschiedenheit von männlich und weiblich. Die Vereinigung zweier Provinzen mit ihren unterschiedlichen Traditionen – theologisch, in der Lebensweise und liturgisch – kann fruchtbar sein für Neues.
Die christliche Identität ist nie festgelegt. Unsere vollständige Identität liegt immer vor uns. Der heilige Johannes schrieb: „Meine Lieben, jetzt sind wir Kinder Gottes. Doch ist noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen, dass wir ihm ähnlich sein werden, wenn er offenbar wird; denn wir werden ihn sehen, wie er ist“ (1. Johannesbrief 3,2). Sich zu sehr an eine Identität zu binden bedeutet, das Abenteuer des Christentums zurückzuweisen. Wir sollten uns also nicht zu sehr darum kümmern, wer wir sind. Die Schriftstellerin und Philosophin Iris Murdoch sagte: „Die Hauptanforderung für ein gutes Leben ist, ohne jegliches Bild von sich selbst zu leben.“
Die Initiative liegt bei uns
Angesichts unserer kleiner werdenden Gemeinschaften, unserer kleiner werdenden Gemeinden besteht die Versuchung zu fragen: Was müssen wir aufgeben? Welche Projekte müssen wir beenden? Aber auf diese Weise zu fragen würden bedeuten, in eine Haltung des langsamen Rückzugs und der Niederlage zu geraten.
Fragen wir lieber mit Blick auf unsere Zukunft: Was wollen wir tun? Welches Projekt möchten wir beginnen? Dann werden wir mit einer Haltung der Erneuerung und Freiheit leben. Selbst wenn die Eröffnung eines neuen Projekts oder einer neuen Gemeinschaft bedeutet, dass zwei andere beendet werden müssen, liegt die Initiative bei uns. Schließlich bleiben wir Menschen wirklich lebendig, wenn wir uns mit denjenigen Fragen auseinandersetzen, auf die wir die Antwort noch nicht kennen – Fragen, die uns zu einer neuen Art des Denkens und Seins einladen! Der Lyriker Rainer Maria Rilke empfahl im vierten seiner „Briefe an einen jungen Dichter“:
„Forschen Sie jetzt nicht nach den Antworten, die Ihnen nicht gegeben werden können, weil Sie sie nicht leben könnten. Und es handelt sich darum, alles zu leben. Leben Sie jetzt die Fragen. Vielleicht leben Sie dann allmählich, ohne es zu merken, eines fernen Tages in die Antwort hinein.“
In meinen Worten schließe ich: Wenn du offen für neue Fragen bist, wirst du in Gottes frischer Gnade leben!
Übersetzt aus dem Englischen von Martin Rosner OP.
* Dieser Beitrag ist der aktuellen Ausgabe unseres Magazins kontakt entnommen (hier kostenfrei erhältlich). Pater Timothy Radcliffe OP gehört zur englischen Dominikanerprovinz. Er war von 1992 bis 2011 Ordensmeister der Dominikaner. Die Weltsynode in Rom gestaltete er 2024 als geistlicher Begleiter mit. Papst Franziskus nahm ihn im Dezember 2024 in das Kardinalskollegium auf.
„…and in the morning wake like a new-opened flower
then I have been dipped again in God, and new created.“„…am Morgen erwachen wie eine neu geöffnete Blume
so wurde ich wieder in Gott getaucht und neu erschaffen.“
David Herbert Lawrence (engl. Schriftsteller und Lyriker, 1885 – 1930)